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Forscher fordern Atomkraft-Aus und eine Energiewende

In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel haben am 30. März mehr als 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften ein beschleunigtes Ausstiegsszenario aus der Atomenergie gefordert. Die deutschen Laufzeitverlängerungen müssten dauerhaft zurückgenommen werden.



In dem Schreiben drücken die Unterzeichner ihre Betroffenheit über die Opfer der Katastrophe in Fukushima aus und betonen, dass heute erneuerbare Energien im Zusammenwirken mit Effizienztechnologien genügend Energie bereitstellen könnten, um bis 2020 oder früher alle Atomkraftwerke in Deutschland abzuschalten. Dafür seien ein Ausbau der Netze, Stromspeichertechnologien und eine verstärkte Nutzung von Kraft-Wärme-Kopplung KWK nötig. Detaillierte Szenarien zur Energiewende aus dem Jahr 2010 zeigen, dass ein Energiesystem auf Basis erneuerbarer Energien bis 2050 rund 750 Milliarden Euro günstiger ist als ein Festhalten am bisherigen Weg.

Die Unterzeichner beschreiben ihre Sorge über den Weiterbetrieb von Kernkraftwerken und bieten ihre Hilfe bei der Erforschung und raschen Realisierung von erneuerbaren Energietechnologien an. Sie begrüßen das von der Bundesregierung verfügte Moratorium und weisen auch auf die wirtschaftlichen Chancen für den Exportweltmeister Deutschland und die Vorbildfunktion hin, die das deutsche Verhalten auf der globalen Bühne haben könnte. Das Schreiben ist in Kopie auch an Minister Dr. Norbert Röttgen (Bundesumweltministerium), Ministerin Prof. Dr. Annette Schavan (Bundesforschungsministerium) und an Minister Rainer Brüderle (Bundeswirtschaftsministerium) gesendet worden.

Der offene Brief in voller Länge:

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

wir sind in tiefer Sorge. Die diesen offenen Brief unterzeichnenden Wissenschaftler sind über die Vorgänge in Japan seit dem 11.3.11 erschrocken und möchten an erster Stelle ihr Bedauern über das Schicksal der Bevölkerung dort ausdrücken. Zur Naturkatastrophe tritt möglicherweise eine menschengemachte Kernenergiekatastrophe in Fukushima hinzu, welche die Bevölkerung zusätzlich kurz-, mittel- und langfristig schwer schädigt. Wir hoffen, mit der Bevölkerung Japans und mit den Wissenschaftlern und Technikern in Fukushima, dass es dort nicht zu einem Super GAU kommen wird.

Wir befürchten, dass die Wissenschaft zu lange in der Auseinandersetzung um die Kernkraft in Deutschland geschwiegen hat, in der Hoffnung, dass bis zum Ausstieg aus der Kernenergie nichts passieren wird. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir unsere Stimme erheben und klar zum Ausdruck bringen, dass es keine sicheren Kernkraftwerke geben kann, nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft, und zwar aus physikalischen und technischen Gründen.

Schon die Unfälle von Windscale 1957, Lucen 1969, Three Mile Island 1979 und von Tschernobyl 1986 sowie der "Beinahe GAU" von Forsmark in 2006 zeigen, dass das Restrisiko in der Vergangenheit etwa alle 10 Jahre Wirklichkeit wurde. Die aktuellen Entwicklungen in Japan, einem der führenden Hochtechnologieländer, drohen diese tragische Reihe nun fortzusetzen. Unbeherrschbare Zustände komplexer Technologien sind nicht deshalb unvermeidbar, weil die Wissenschaft und Technik noch nicht so weit sind, sondern dies ist eine prinzipielle, naturwissenschaftliche Problematik.

Die physikalische Chaostheorie sagt, dass kleinste Änderungen in komplexen Systemen sehr große Auswirkung haben können. Mit anderen Worten: Wir können aus naturwissenschaftlichen Gründen niemals wissen, wie sicher unsere Kernkraftwerke wirklich sind, denn wir sind nicht in der Lage, ihre Sicherheit zu berechnen. Die Unvorhersagbarkeit von komplexen technischen Systemen ist unabhängig von der zur Verfügung stehenden Menge der Betriebsinformationen, weil das Gesamtsystem grundsätzlich nicht durch die Analyse seiner einzelnen Komponenten voll verstanden werden kann. Daher können wir prinzipiell nicht wissen, warum und wann technische Systeme versagen. Wir stoßen hier an eine fundamentale Schranke menschlicher Fähigkeiten. Im Fall von Kernkraftwerken mit Gefahren für Millionen von Menschen ist dies nicht länger zu tolerieren.

Risiken derartiger katastrophaler Unfälle müssen nicht in Kauf genommen werden! Wir können heute mit Wasser, Wind, Sonne, Bioenergie und Geothermie ausreichend Strom bereit stellen, um bereits bis 2020 oder auch früher die Leistung der Kernkraftwerke in Deutschland und dann auch in Europa zu ersetzen. Die energetischen und technischen Potenziale der Effizienztechnologien und der erneuerbaren Energien sind größer als alle anderen fossilen oder nuklearen Energiepotenziale, sie sind umweltfreundlich, wirtschaftlich und sozial akzeptabel. Bei weiterem Ausbau der erneuerbaren Energien wird in kurzer Zeit die durch Kernkraftwerke eingespeiste Strommenge von 140 TWh/a vollständig zu ersetzen sein. Dieses bedingt natürlich den Ausbau der Infrastruktur wie Stromnetze und Speichermöglichkeiten um zum Beispiel den Austausch mit Wasserkraft in der Schweiz und Norwegen zu ermöglichen.

Wir brauchen die Kernkraft nicht als Brückentechnologie zur Einführung der erneuerbaren Energien. Der bereits in den letzten Jahren beobachtete rasche Zubau der Erneuerbaren wird durch die geringe Flexibilität der Kernkraftwerke eher behindert. Geeignete Brückentechnologien hingegen sind gasgefeuerte Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen zusammen mit Speichern und dem Netzausbau. Erdgas kann dabei sukzessive durch biogene Gase und Wasserstoff aus effektiver, großvolumiger Elektrolyse bzw. durch Methan aus der Methanisierung von Wasserstoff ersetzt werden. Damit könnte unsere Abhängigkeit von Gasimporten deutlich verringert werden. Die Entwicklung dieser Technologien sollte zusammen mit Energieeffizienzmaßnahmen hohe Priorität haben.

Lange Laufzeiten von Kernkraftwerken werden auch ökonomisch zunehmend fragwürdig. Denn der zunehmende Betrieb in Unterlast führt zu einem immer weniger rentablen Betrieb. Zu beachten ist weiterhin, dass die Atomenergie die teuerste Energieerzeugung ist, wenn alle Erzeugungsmethoden den gleichen üblichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unterworfen werden. Dazu zählt auch die Versicherung der Anlagen. Dies ist heute nicht der Fall; kein Haus, kein Auto, keine Fabrik ist gegen Kernkraftunfälle versichert. Diese Ausfallbürgschaft der öffentlichen Hand bzw. der Gesellschaft, die sich seit langem mehrheitlich gegen die nukleare Stromerzeugung ausspricht, sollte von der Politik umgehend zurück genommen werden. Nur die versteckten Subventionen machen Strom aus Kernenergie so „billig“.

Demgegenüber können wir bei einem Umstieg auf die Erneuerbaren bis 2050 einen kumulierten volkswirtschaftlichen Vorteil von 750 Mrd. € erwarten, wie im "Energieszenario 2050" von sieben Mitgliedern des ForschungsVerbunds Erneuerbare Energien (FVEE) im Detail beschrieben wurde.

Ein weiteres Thema ist die Förderung der Kernfusion, die in den letzten Jahrzehnten aus Mitteln für Energieforschung unterstützt wurde. Wir haben ernste Zweifel, ob überhaupt und wann die wissenschaftlichen Durchbrüche erreicht werden, die noch erforderlich sind, um nach 2050 wirklich Strom mit dieser Technologie zu gewinnen. Auf der einen Seite steht das völlig ungelöste Problem der Wandmaterialien, die den Bedingungen des Millionen Grad heißen Plasmas jahrzehntelang widerstehen müssen. Auf der anderen Seite steht das ökonomische Argument: Selbst wenn es gelingt, nach 2050 einen Fusionsreaktor kommerziell zu betreiben, wird dieser Strom bedeutend teurer sein als künftiger Strom aus erneuerbaren Energien.

„Wir gehen den Weg in das Zeitalter der regenerativen Energie“ heißt es in der Präambel des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und FDP. Auf diesem Weg sind wir bisher aufgrund eines breiten gesellschaftlichen Konsenses und dem effektiven Zusammenwirken von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gut voran gekommen. Im Jahr 2010 haben erneuerbare Energien bereits 17% unseres Strombedarfs gedeckt und in der gesamten Branche arbeiten 366.000 Menschen. Deutschland ist Exportweltmeister und in weiten Bereichen technologisch führend. Dafür kamen und kommen die maßgeblichen Impulse aus der Wissenschaft. Vor dem Hintergrund der aktuellen Erarbeitung des 6. Energieforschungsprogramms der Bundesregierung erwarten wir deshalb auch eine Neuausrichtung der Forschung: Die Mittel für die Nuklearforschung sollten vollständig für die Erforschung der erneuerbaren Energien und für Energieeffizienztechnologien umgewidmet werden. Auch die zusätzlich notwendige deutliche Aufstockung aus dem Sondervermögen „Energie- und Klimafonds“ ist möglich, in dem wegfallende Einnahmen aus der Kernbrennstoffsteuer durch höhere Erlöse aus der Versteigerung von Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen kompensiert werden. Gegebenenfalls ist dafür eine Anpassung der Emissionsmengen erforderlich.

Das von der Bundesregierung bereits ausgesprochene Moratorium der Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Im Angesicht der Ereignisse in Japan sollten die deutschen Laufzeitverlängerungen dauerhaft zurück genommen und durch ein beschleunigtes Ausstiegsszenario ersetzt werden, mit einem forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz.

Bitte bedenken Sie, Frau Bundeskanzlerin, auch die Vorbildwirkung und die enormen Chancen, die das weitere deutsche Vorgehen in Europa sowie weltweit haben wird. Unsere in den letzten Jahren erreichte Spitzenstellung im Bereich der erneuerbaren Energietechnologien wird weltweit gesehen und bewundert. Die genannte Neuausrichtung der Energie- und Energieforschungspolitik in diese Richtung wird ebenso beachtet werden und die Handlungen globaler Akteure zu einer nachhaltigen Energieversorgung beeinflussen.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Eicke R. Weber

Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme

Quelle: Solar Consulting GmbH / Prof. Dr. Eicke R. Weber

Letzte Aktualisierung: 31.03.2011